Der Begriff des „Simultaneum“ meint die gemeinsame Nutzung eines Kirchengebäudes durch mehrere Konfessionen. Um gleich eine Verwechslung zu vermeiden: Es handelt sich dabei nicht um „Ökumene“. Das eine beschreibt nachvollziehend eine Rechtsform (Simultaneum), das andere setzt die Akzeptanz als Lebensform (Ökumene) voraus. Das soll kein Vorschlag sein, ökumenische Vorhaben geringzuschätzen oder gar abzulehnen. Für die geschichtliche Betrachtung des Simultaneums gehört aber die Einsicht zur Voraussetzung, dass ein gemeinsames Gotteshaus zwischen gutem Auskommen und guter Rivalität alles bereithält. Und auch das sei vorweggenommen: Bechtolsheim hatte reichlich von beidem.
Politisch diffizil
Speziell für Bechtolsheim wird die Entscheidung über die Rechtsform diffizil, denn die Ganerbschaft mit einer wechselnden Zahl von herrschaftsbeteiligten Familien durchbrach notwendigerweise das vielzitierte Prinzip „cuius regio, eius religio“, das im späten Reformationsjahrhundert dem Ortsherren die Möglichkeit garantierte, die Konfession seines gesamten Untertanenverbands zu bestimmen. Bei mehreren Ortsherren und mehreren Untertanenverbänden entstanden hier Freiräume, die immerhin garantierten, dass hier Anhänger aller drei großen christlichen Konfessionen (römisch-katholisch, lutherisch, reformiert) sowie Juden wohnen konnten. Dass über den Kultus in der Kirche weiterhin gestritten werden konnte, war dann in erster Linie ein Konflikt der Obrigkeiten. Jetzt fällt auch schon auf, dass die Simultankirche im benachbarten kurpfälzischen Gau-Odernheim trotz der gleichen Bezeichnung etwas ganz anderes ist und schon immer etwas ganz anderes war – nicht nur wegen der trennenden Wand. Daneben gibt es für die Evangelischen noch eine Besonderheit infolge der Ganerbschaft: Da die beteiligten Familien dem Freiherrenstand bzw. der Ritterschaft angehörten, konnten sie keine Steuerung der konfessionellen Nuancierung vornehmen. Schließlich konnten sie keine eigenen Landesuniversitäten zur Pfarrerausbildung oder Kirchenräte zur Redaktion von Katechismen und Kirchenordnungen ins Feld führen. Entsprechend „galten“ hier keine der großen Regelwerke, sondern vielmehr waren die protestantischen Ortsherren ständig gezwungen, einen Konsens zu finden. Dieses Problemfeld kennt die katholische Kirche nicht, da sie den Anspruch auf universale Geltung erhebt und daher im Prinzip in Lehre und Gottesdienst auf der ganzen Welt einen gemeinsamen Standard definiert.
Stilistisch konservierend
Vor dem Ablauf der konfessionellen Entwicklung lohnt sich noch ein Blick auf das herrschaftliche Umfeld und die damit verbundenen konfessionellen Schwankungen. So lag Bechtolsheim in einer kurpfälzischen „Zange“ mit Biebelnheim, Gau-Odernheim, Weinolsheim und Undenheim als Gemeinden, welchen das Schicksal alle kurpfälzischen Konfessionswechsel erzwang: Bis zum Zusammenschluss der Lutheraner und der Reformierten 1822 war noch viel Zeit zum innerprotestantischen Streit, so dass Bechtolsheims Nachbarn mindestens zweimal lutherisch, zweimal reformiert und zweimal katholisch waren – plus kurzfristig erzwungener Wechsel während des Dreißigjährigen Kriegs. In der Öffnung der oben bezeichneten „Zange“ lag das zum Haus der Kämmerer von Worms, genannt Freiherren v. Dalberg, gehörige Gabsheim. Genau ein Zweig dieser Familie hatte in den Anfangsjahren der Reformation die römisch-katholische Kirche verlassen, ansonsten galt diese Familie bis zum Ende des Heiligen Römischen Reichs 1806 als mustergültiger Garant für die katholische Konfession. Für die Bechtolsheimer Katholiken gewiss ein Segen: Auch wenn sie zeitweise keinen eigenen Pfarrer vor Ort hatten, war die Versorgung mit Sakramenten gesichert, der Besuch des katholischen Gottesdiensts zumindest möglich.
Zur Zeit der Reformation hielten sich die Fürsten (außer Pfalz-Zweibrücken) im Südwesten überwiegend noch mit der Konversion zurück, wohingegen es gerade die Reichsritter waren, unter denen sich das lutherische Bekenntnis rasch ausbreitete. (Die reformierte Konfession blieb zunächst noch knapp 40 Jahre lang eine Schweizer bzw. Straßburger Erscheinung.) Auf diese Weise kamen evangelische Sympathien in der politischen Führungselite schon früh nach Bechtolsheim, ohne dass ihnen dabei auf irgend eine Weise begegnet worden wäre. In der Folgezeit wirkte sich die innere Herrschaftszersplitterung auf überraschende Weise aus, denn im Interesse eines starken Gerichtsherrn hatte die Kurpfalz die Vogteirechte und beanspruchte auf dieser Grundlage Mitsprache bei der Besetzung der Pfarrstelle. Ein ganerbschaftlicher Titel stand den Pfalzgrafen dabei nicht zu, und auch ihre Anteile an den Steuern und Abgaben vor Ort waren verschwindend gering. Gewissermaßen als Experiment im Recht des Stärkeren versuchte sich die Kurpfalz 1544 erstmals in der Einführung des evangelischen Gottesdiensts, scheiterte damit allerdings offenbar am persönlichen Protest des katholischen Pfarrers Johannes Schuhmacher. Es folgte die lange Epoche kurpfälzischer Schlingerkurse. Friedrich II. („der Weise“, aber nur sehr wohlwollend) neigte sicher zum Luthertum, fuhr aber aufgrund der Abhängigkeit vom Kaiser als dessen kaiserlicher Rat und Ritter vom Goldenen Vlies seinen konfessionellen Kurs zeitlebens mit „angezogener Handbremse“, zumal die Protestanten 1546 mit dem sogenannten „Schmalkaldischen Krieg“ auch den ersten Religionskrieg auf deutschem Boden verloren hatten. Unter seinen vier Nachfolgern wechselte die Konfession jedesmal, nämlich lutherisch-reformiert-lutherisch-reformiert. Für Reichsritter und Freiherren das blanke Grausen, denn der 1555 geschlossene Religionsfrieden erkannte nur die Wahl zwischen lutherisch und römisch-katholisch an, so dass die reformierte Kurpfalz im Reich wohl nur durch ihre Prominenz und Systemrelevanz geduldet wurde. 1559 war es Kurfürst Ottheinrich bei der Pfarrstellenbesetzung gelungen, mit Johannes Ryß von Oppenheim erstmals einen lutherischen Pfarrer zu installieren, so dass die Pfarrei fortan auch lutherisch geführt wurde. Während sich spätestens unter Friedrich III. („dem Frommen“) in den kurpfälzischen Nachbargemeinden die Bilderstürme vollzogen, blieb Bechtolsheim davon verschont. Denn ganz gleich, wie sich die Heidelberger Kurfürsten nach vorne drängelten, konnten sie doch keine Visitation durchführen, weder ihre Kirchenordnung verfügen noch die örtliche Bevölkerung für herrschaftsgeleitete Randale gewinnen. Der herrschaftliche Sonderfall der Ganerbschaft hat auf diese Weise stilistisch konservierend gewirkt: Genauso wie der Bildersturm zur Reformationszeit ging im 18. Jahrhundert der katholische Brauch, kirchliche Altbauten durch neue Barockkirchen zu ersetzen, an Bechtolsheim vorüber, weil zum letztgenannten Zeitpunkt die Kirche längst von zwei Konfessionen verwaltet wurde. Zumindest für das 18. Jahrhundert lässt sich unterdessen unter den herrschaftsberechtigten Ganerbenfamilien eine katholische Mehrheit nachweisen.
Erzwungene Öffnung
Deutschlandweit betrachtet sind Simultankirchen auf dem linksrheinischen Gebiet überrepräsentiert und Rheinhessen hat davon seinen Teil abbekommen. Letztlich kam die Initiative zur Ausbreitung aus Frankreich, das während der Kriegszüge an den Rhein „seine“, nämlich die katholische, Konfession im Gepäck mitbrachte. Dabei verfolgten die Kriegsherren des Sonnenkönigs Ludwig XIV. eine Kombination aus kultureller Infiltration und Fuß-in-der-Tür-Politik, indem sie die Rechtslage formell nicht antasteten, aber in allen Kirchen im besetzten Gebiet katholische Messen lesen ließen. Seit Palmsonntag des Jahres 1685, einem symbolträchtigen Datum im liturgischen Kalender, gilt in Bechtolsheim die gemeinsame Nutzung der Kirche durch zwei Konfessionen. Beim Friedensschluss in Rijswijk 1697 gelang Frankreich ein diplomatischer Coup: Nach dem Aussterben der reformierten Wittelsbacher Kurfürsten von der Pfalz 1685 hatte eine katholische Seitenlinie die Herrschaft in Heidelberg und Mannheim übernommen, zu deren Wünschen wiederum die Verbreitung ihrer Konfession gehörte. Das Reichsrecht hatte aber seit 1648 garantiert, dass die Landesherren gegen den regionalen Bestand der Konfessionen nicht mehr vorgehen durften. Die französischen Unterhändler forderten unmittelbar vor der Unterzeichnung des Friedensvertrags als zwingende Bedingung die Öffnung aller evangelischen Kirchen im besetzten Gebiet als Simultankirchen. Der katholische Kaiser und der nun katholische Kurfürst von der Pfalz hätten formell gegen diesen Verstoß gegen geltendes Reichsrecht protestieren müssen. Zugleich konnten sie natürlich ihr Glück nicht fassen, dass ihnen ja von außen eine Bedingung zu ihren Gunsten aufgezwungen wurde, die sie zwar begrüßten, aber gar nicht hätten laut äußern dürfen. Bechtolsheim, das 1686 erstmals vorübergehend sogar wieder einen katholischen Geistlichen gehabt hatte, lag fortan in einem herrschaftlich wie gottesdienstlich vom Katholizismus dominierten Umfeld. Zudem erhielt der katholische Pfarrer noch eine französische Pension von 300 livres. In diese Phase fällt auch der Erwerb des Hochaltars – die Dalberger Lilien in seinem Herzen gleichsam als Zeichen der Treue des Hauses der Kämmerer von Worms tragend. Ganz im Geist dieser Verschiebungen gelang es dem katholischen Pfarrer Barthel (1695 oder 1698-1715), durch seinen persönlichen Einsatz und sein Charisma, lutherische Bechtolsheimer zur Konversion zu bewegen. Damit lässt sich auch belegen, dass die Konfessionen in einem echten Wettbewerb standen, d. h. dass den Bechtolsheimern die Möglichkeit offenstand, katholisch werden zu dürfen. Nach Barthels Tod 1716 etablierte sich auf katholischer Seite der Brauch, jeweils einen Benediktinerpater des Klosters Jakobsberg nach Bechtolsheim zu schicken (zuerst der langlebige P. Aemilianus Händel (1717-1738), d. h. dass eine Generation nach der Neugründung der katholischen Pfarrgemeinde in Bechtolsheim (im Rahmen eines Simultaneums) eine deutliche Integration in das Leben der Diözese Mainz und der traditionellen Orden gelungen war. Wie viele Katholiken im Jahr 1685 in Bechtolsheim lebten, lässt sich nicht mehr feststellen und war in vergangenen Jahrzehnten sogar Gegenstand einer Kontroverse. Statistische Angaben liefert erst wieder die Pfarrrelation von 1729, derzufolge 50 katholische Familien mit 240 Seelen (und 160 Kommunikanten) in Bechtolsheim wohnten. Sowohl absolut als auch anteilmäßig liegen diese Zahlen so hoch, dass von einem soliden „Sockel“ an katholischen Bechtolsheimern zum dem Zeitpunkt ausgegangen werden darf, an dem das Simultaneum eingerichtet wurde (1685).
Harmonischer Pragmatismus
Eine wesentliche Neuerung, die gar nicht durch das Verhältnis von Evangelischen und Katholischen bestimmt war, trat 1822 in Kraft, als sich in ganz Rheinhessen die beiden bis dahin getrennt bestehenden protestantischen Konfessionen zu einer gemeinsamen „unierten“ Landeskirche zusammenschlossen. Damit saßen jetzt auch wieder Christen mit in den Bänken, die sich innerlich eindeutig zur reformierten Konfession bekannten, diese jetzt aber in ganz Rheinhessen nicht mehr finden konnten. Wie in Deutschland üblich dominierten die lutherischen Formen und Bräuche (z. B. Kerzen, Perikopen, Altar, Abendmahlslehre) bald das öffentliche Leben auch der „unierten“ evangelischen Gemeinde, wobei sich der Heidelberger Katechismus als die maßgebliche reformierte Bekenntnisschrift bis heute als gepflegtes Kulturgut einer Minderheit erhalten hat. Mit dem Hochaltar oder aber den Nebenaltären, Heiligenbildern und -statuen konnten und können die Reformierten zwar nichts anfangen, aber seit fast 200 Jahren gibt es ihre Konfession und ihre gestalterischen Interessen ja nach der Kirchenverfassung nicht mehr. Unbestreitbar dagegen bleibt die Einsicht, dass hier Welten aufeinanderprallen – und dass evangelische (beider Couleur) und katholische Christen in Bechtolsheim doch eine veränderte Religionswirklichkeit wiederfinden.
Konkurrenz und Zwist (z.B. Störungen der Fronleichnamsprozession) mag es wohl durchgängig gegeben haben, aber erst unter Dekan Karl Oberle (Pfarrer in Bechtolsheim 1905-1942) findet sich eine regelmäßige und punktgenaue Dokumentation davon wieder, weil für seine Amtszeit die Akten der kanonischen Visitationen erhalten sind. Gleich in sein erstes Amtsjahr fiel ein Paukenschlag, als der evangelische Pfarrer Karl Neurath (in Oberles Aufzeichnungnen „Schmitt“) mit Zustimmung seines Kirchenvorstands die Auflösung des Simultaneums vorschlug. Dabei wollte er die Kirche den Katholiken gegen Abfindung überlassen, „da sie ihm zu groß und zu kalt sei“. Oberle persönlich teilte das geäußerte Interesse, insofern er Drängeleien der anderen Konfession bei langen Festgottesdiensten als unwürdig betrachtete und auch den Altarschmuck und die gottesdienstlichen Geräte durch das ständig notwendige Auf- und Abräumen in Mitleidenschaft gezogen sah. Ganz zu schweigen von garstigen Scherzen wie dem Auslöschen des Ewigen Lichts. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs liefen auch Verhandlungen zum Gesamterwerb der Kirche samt Gestühl und Orgel durch die katholische Kirche, die dann allerdings durch die Geldentwertung erst nicht mehr umsetzbar und letztlich in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr gewollt war. Der allmähliche Bedeutungsverlust der vorrangig religiösen Welt- und Lebensdeutung hat unterdessen längst einem ruhigen und harmonischen Pragmatismus den Weg bereitet. Ein letzter auch räumlich sichtbarer Schritt des Zusammenwachsens folgte nach der Renovierung von 1976, als die vormals rein katholisch genutzte Sakristei fortan für den gemeinsamen Gebrauch offenstand. Gewiss hat die katholische Kirche einen erheblich größeren Bedarf an gottesdienstlichen Gegenständen und Gewändern, so dass ihre Gemeinde diesen Rückraum auch dringender benötigt. Diese „Einladung“ erleichtert allerdings den Evangelischen zweifelsfrei viele Abläufe des Gottesdienstalltags. (TSS)